E.R.1. Dringlichkeitsentschließung zur Wirtschafts- und Finanzkrise

Die EGÖD-Mitglieder erkennen folgende Aussagen an:

1. In den vergangenen Wochen sind die tief greifenden Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf die europäischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, unsere Familien und die Gemeinden, in denen wir leben, immer deutlicher geworden. Die Arbeitslosigkeit in Europa nimmt schnell zu und entlässt Millionen von ArbeitnehmerInnen in die Armut. Alle Fortschritte, die wir bei dem Kampf gegen die Armut in Europa und weltweit mit Hilfe der Millennium-Entwicklungsziele der UN erreicht haben, wurden in einigen wenigen Monaten zunichte gemacht.

2. Viele Beschäftigte im öffentlichen Sektor werden vom Verlust ihres Arbeitsplatzes, Lohnstopps und Lohnkürzungen bedroht. Regierungen, Kommunalverwaltungen und andere Behörden haben in den vergangenen Wochen vorgeschlagen, Kollektivvereinbarung neu zu vehandeln, die Lohnentwicklungen über die kommenden zwei bis drei Jahre vorgesehen haben. Die Löhne und die Altersversorgung im öffentlichen Sektor sind in Gefahr. Dabei wird übersehen, dass die meisten Beschäftigten, die existenzwichtige Dienstleistungen für die BürgerInnen und die Wirtschaft Europas bereitstellen, nur niedrige oder mittlere Einkommen beziehen. Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst sind die unbekannten Heldinnen und Helden, die in Arbeitsvermittlungen, Finanzämtern, Ministerien, Ausbildungseinrichtungen und anderen Regierungsbehörden unermüdlich im Einsatz sind, um die Krise zu bewältigen. Da viele Frauen im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen beschäftigt sind, dürfte eine erzwungene Lohnzurückhaltung im öffentlichen Sektor die jahrelange Arbeit zur Verringerung geschlechtsspezifischer Lohnunterschiede zunichte machen.

3. Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst haben auf Demonstrationen alternative Lösungen und das Ende einer neoliberalen Politik gefordert, die uns diese Krise beschert hat. EGÖD-Mitglieder haben sich in Belgien, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Ungarn, Italien, Lettland, Litauen, Portugal usw. an diesen Aktionen beteiligt Die Demos im Mai, koordiniert vom EGB, haben zu einer massiven Unterstützung der Neuen Sozialagenda für Europa geführt und den Zorn der ArbeitnehmerInnen deutlicht gemacht, die den Preis für eine Krise bezahlen müssen, deren Verursacher sie nicht sind.

4. Die derzeitige Krise zeigt, dass der Kapitalismus nicht stabil ist. Es war ein schwerer politischer Fehler, die öffentlichen Dienste während der letzten Jahre durch Liberalisierung, Kommerzialisierung und Privatisierung zu schwächen. Öffentliche Dienste in öffentlicher Hand und unter öffentlicher Kontrolle sorgen dafür, dass die Wirtschaft stabile Verhältnisse vorfindet. Die Demontage öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute, die Deregulierung der Finanzmärkte und die fehlende Aufsicht haben ebenfalls einen Beitrag zu dieser Instabilität geleistet. Die Deregulierung der Arbeitsmärkte ist ein weiteres Credo dieser Politik und hat dazu geführt, dass für immer mehr ArbeitnehmerInnen prekäre Beschäftigungsverhältnisse gelten. Leiharbeitskräfte sind davon am härtesten betroffen. Eine weitere Folge dieser Politik ist die Zunahme von Ungleichheiten – die 1% Reichsten konnten ihren Anteil am Nationaleinkommen in vielen europäischen Ländern, in den USA und in anderen Ländern deutlich verbessern.

5. Die Finanz- und Wirtschaftskrise geht Hand in Hand mit einer tiefgreifenden Umweltkrise. Unsere Umwelt wird verschmutzt, knappe Ressourcen wie Wasser werden vergeudet, und der globale Klimawandel stellt eine ernsthafte Bedrohung dar. Die Wirtschaftskrise bringt die Gefahr mit sich, dass wir das Thema Umwelt vernachlässigen, anstatt es als Chance für einen Wechsel hin zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum nutzen.

6. Der politische Konsens auf EU-Ebene und auch auf der globalen Ebene beruhte in den vergangenen 25 Jahren auf der Vorstellung, dass freie Märkte automatisch zu mehr Fortschritt führen. Mächtige Unternehmenslobbys und Konzerne haben sich mit allen Mitteln gegen Regulierungsversuche im Sozial- und Umweltinteresse gewehrt und dabei auch Kollektivvereinbarungen nicht ausgelassen. Heute ist es offensichtlicher als jemals zuvor, dass uns diese Lobbyisten und Konzerne nicht aus der Krise retten und auch freiwillig keine Maßnahmen ergreifen werden, um die Umwelt zu schützen und um die Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Banker und Wirtschaftsbosse verteidigen nach wie vor ihre Bonussysteme und hohen Abfindungen, und nur massive öffentliche Proteste können hier einen Verzicht erzwingen. Die PolitikerInnen müssen sich ihrer Verantwortung auch als Arbeitgeber im öffentlichen Sektor stellen und dafür sorgen, dass Dienstleistungen im Interesse der Gesellschaft erbracht werden können, indem zusätzliche Mittel für die Sicherung von Arbeitsplätzen sowie für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Qualität der Dienstleistungen für die BürgerInnen bereitgestellt werden. Die Arbeitsbedingungen und das Arbeitsumfeld müssen im öffentlichen Sektor erhalten bleiben. Krisen in früheren Zeiten haben gezeigt, dass diese mit Risiken für die Gesundheit der Beschäftigten und der Gesundheit allgemein verbunden sind. Die Gesellschaft muss dafür sorgen, dass dies nicht noch einmal passieren kann. Die Anforderungen und Erwartungen an öffentliche Dienste werden steigen, eine adäquate Finanzierung ist deshalb unverzichtbar.

Der 8. EGÖD-Kongress:

7. Ist sich darin einig, dass der öffentliche Sektor eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der Krise spielt und dass deshalb Investitionen in öffentliche Dienste und öffentliche Infrastrukturen erfolgen müssen. Dies wird zum allgemeinen Nutzen sein, die Wirtschaft stabilisieren, Ungleichheiten verringern, Nachfrage und Beschäftigung stützen und einen Beitrag zu einem zukünftigen nachhaltigen Wirtschaftswachstum leisten. Die Behörden und die öffentlichen Arbeitsvermittlungen müssen eine aktive Arbeitsmarktpolitik betreiben. Öffentliche Dienste spielen eine wichtige Rolle, wenn es um den Schutz der Menschen vor den schlimmsten Auswirkungen des wirtschaftlichen Abschwungs geht. Investitionen in die Gesundheitsversorgung, in die Bildung und in eine neue soziale und ökologische Politik (New Deal) verbessern langfristig die Aussichten einer Gesellschaft, sich von der Krise zu erholen, die Armut zu verringern und uns auf den Pfad eines ökologisch nachhaltigen Wachstums zu bringen. Die aufgrund des demographischen Wandels ohnehin schon hohen Anforderungen an öffentliche Dienste wie Bildung und Gesundheits- und Sozialdienste werden vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise weiter zunehmen. Investitionen in solche Dienstleistungen sind ein Weg aus der Depression. Weniger Geld für diese Dienste, Personalabbau und geringere Standards sind deshalb falsche Maßnahmen und gefährden die Qualität öffentlicher Dienste. Was wir aber im Gegenteil erreichen müssen, sind die Bewahrung und die Weiterentwicklung unserer qualitativ hochwertigen öffentlichen Dienste. In der Antwort der Europäischen Kommission auf die Krise fehlt bisher ein Plädoyer für den öffentlichen Sektor und für eine neue grüne und soziale Politik. Der EGÖD fordert die europäischen Institutionen auf, die Rolle des öffentlichen Sektors in dem Konjunkturpaket für die europäische Wirtschaft neu zu überdenken.

8. Unterstützt die Forderung des EGB nach einer sofortigen Verstaatlichung insolventer Banken, deren Zahlungsunfähigkeit signifikante Auswirkungen auf ArbeitnehmerInnen, Ersparnisse und das Finanzsystem haben würde, sowie nach verstärkten Investitionen in ein soziales Europa – zum Beispiel die Stärkung der Systeme der Arbeitslosenunterstützung, Verbesserung von Qualifikationen, lebenslanges Lernen, neue Arbeitsplätze im Sozialsektor, Unterstützung junger Menschen. Dies erfordert ein erweitertes Konjunkturprogramm mit massiven öffentlichen Investitionen. Die EU und die europäischen Banken sollten die Volkswirtschaften der neuen Mitgliedstaaten und der mittel- und osteuropäischen Volkswirtschaften unterstützen. Der EGÖD steht hinter der Forderung des EGB nach höheren Ausgaben der europäischen Fonds (Europäischer Sozialfonds, Globalisierungsfonds) sowie angesichts der anstehenden politischen Entscheidungen und Herausforderungen nach einer Aufstockung des Europäischen Haushalts.

9. Zeigt sich besorgt darüber, dass die Krise auch die Sicherheit der Altersversorgung der ArbeitnehmerInnen gefährdet. Vielfach mussten sie erleben, dass ihre Rücklagen fürs Alter in kapitalgedeckten Rentenfonds erhebliche Wertverluste erlitten haben. Arbeitgeber und Gewerkschaften sollten darüber verhandeln, wie diese Rückstellungen über einen ausreichend langen Zeitraum wieder aufgebaut werden können. Desgleichen muss verhindert werden, dass unsere Rentenfonds für spekulative Finanzgeschäfte missbraucht werden. Gleichzeitig stellen wir fest, dass die Finanzkrise als Vorwand genommen wird, leistungsorientierte Altersversorgungssysteme zu attackieren und sie deshalb entweder für nachrückende ArbeitnehmerInnen besonders im öffentlichen Sektor zu schließen und sie durch beitragsorientierte Versorgungssysteme zu ersetzen, oder das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Der EGÖD wird wachsam sein, die Altersversorgung der ArbeitnehmerInnen verteidigen und sich gegen alle einseitig erzwungenen Reformen der bisherigen Anspruchsregelungen zur Wehr setzen.

10. Kritisiert die Art und Weise, wie einige einzelstaatliche Regierungen Kürzungen öffentlicher Ausgaben und der im öffentlichen Sektor gezahlten Löhne durchgesetzt haben, sowie die Rolle des Internationalen Währungsfonds (IWF), der mit Hilfe der Europäischen Kommission und einiger nationaler Regierungen drakonische Konditionalitäten für Volkswirtschaften wie Lettland und Ungarn festgesetzt hat, die zu massiven Kürzungen von Altersbezügen und Ausgaben für die Gesundheitsversorgung geführt haben. Der EGÖD fordert ebenfalls finanzielle Unterstützungsmaßnahmen unter Verweis auf das europäische Sozialmodell, die (Um)Verteilung von Wohlstand, die Verringerung von Ungleichheiten, faire und progressive Steuersysteme, die Förderung der Arbeitnehmerrechte, Lohngleichstellung und eine angemessene Rolle der Gewerkschaften in allen Verhandlungen und Konsultationen über eine Antwort auf die Krise.

11. Besteht darauf, dass die G20-Länder den Fünfpunkteplan der globalen Gewerkschaftsbewegung als Straßenkarte zur Verbesserung der globalen Weltordnungspolitik (Global Governance) umsetzen und damit die Garantie gegeben ist, dass es nicht noch einmal zu einer Krise dieser Größenordnung kommen kann. Dieser Plan enthält folgende Forderungen:
- koordinierter internationaler Plan für die wirtschaftlicher Erholung und für nachhaltiges Wachstum;
- Regeln für ein globales Finanzsystem;
- Bekämpfung der Risikos der Lohndeflation und Umkehr von Einkommensungleichheiten durch Erweiterung des Geltungsbereichs von Kollektivverhandlungen und Stärkung der institutionellen Faktoren der Lohnbildung, um in den Arbeitsmärkten zu einem vernünftigen Lohnsockel zu kommen;
- weitreichendes internationales Abkommen zum Klimawandel auf der COP15-Konferenz in Kopenhagen im Dezember 2009; und
- Reform globaler Institutionen, um eine rechenschaftspflichtige Global Economic Governance (weltwirtschaftliche Ordnungspolitik) durchzusetzen.
Wir erwarten, dass die EU-Institutionen (Rat, Europäische Kommission und Europäisches Parlament) eine führende Rolle bei der Umsetzung dieser Straßenkarte übernehmen.

12. Fordert den EGÖD-Exekutivausschuss auf, eine aktive Rolle bei der Formulierung von Antworten auf die Wirtschafts-, Sozial- und Umweltkrise zu übernehmen und mit der Internationale der Öffentlichen Dienste (IÖD) bei der Suche nach Lösungen auf globaler Ebene zusammenzuarbeiten.

13. Weist darauf hin, dass die Europäische Zentralbank (EZB), die Europäische Kommission und der Euro-Rat sowie internationale Institutionen wie der Internationale Währungsfonds (EWF) keine Versuche unternehmen sollten, 2010 und 2011 öffentliche Haushalte zu konsolidieren und die Staatsverschuldungen abzubauen, da dies die NutzerInnen öffentlicher Dienste und die Beschäftigten im öffentlichen Sektor ein zweites Mal treffen würde. Der EGÖD und seine Mitgliedsgewerkschaften sollten mit dem EGB ihre eigenen Antworten auf diese Strategien entwickeln. Es kann nicht einfach eine Rückkehr zum Modell neo-liberal organisierter freier Märkte, deregulierter Arbeitsmärkte und der korrumpierenden Gierkultur geben. Es muss weiter in qualitativ hochwertige öffentliche Dienste investiert werden.

14. Fordert, dass die Bekämpfung der Wirtschaftskrise eine vorrangige Priorität des neuen Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission sein muss. Es darf kein „Business as usual“ geben. Der EGÖD will einen echtren Wandel sehen, der zu wirtschaftlichem, sozialen und ökologischen Fortschritten führt. Eine substanzielle Sozial- und Umweltagenda sollte Teil aller Maßnahmen sein, die zur Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise ergriffen werden, damit sich Finanz-, Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik gegenseitig verstärken. Der Kampf gegen Steueroasen, Steuerhinterziehung und Korruption gehören zu den Top-Prioritäten, um das soziale Europa wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

am 9. Juni 2009 vom Kongress angenommen